Haltbare Lebensmittel – ein Mittel der Herrschaft

Der Schlüssel zum Vorratsschrank öffnet den Weg zur Macht

Die Konservierung von Nahrungsmitteln und die Macht, die sie jenen verleiht, die diese Kunst beherrschen, sind ein bislang kaum untersuchtes Phänomen. Jahrhundertelang schürte der Hunger die Angst vor dem Mangel,(1) der als Mittel der Unterjochung eingesetzt werden konnte. Die Demokratisierung der Länder des Westens bescherte diesen letztlich ein Überangebot an Lebensmitteln.
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Serge Ouachée/CC-BY-SA

Die erste Stufe, auf der die Menschheit sich vom Hunger zu befreien vermochte, war mit der wissenschaftlichen Einsicht in die jahrtausendealten Praktiken des Konservierens und der Entdeckung der chemischen Vorgänge beim Verderben von Lebensmitteln erreicht. Was die Technik der Konservierung betrifft, so war es Nicolas Appert(2), der zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine Erfindung des Einkochens von Lebensmitteln in Gläsern publik machte(3). Er war überzeugt, damit ein sicheres Mittel gegen Hungersnöte(4) gefunden zu haben. Ausserdem sei dadurch die regelmäßige Belieferung des Marktes und eine kontinuierliche Lebensmittelversorgung sichergestellt(5). Es brauchte indes noch anderthalb Jahrhunderte, bevor sich diese Prognose, vor allem im Gefolge der Mechanisierung des Haltbarmachens, in den Industrieländern bewahrheitete.

Der Überschuss an Lebensmitteln in den Händen der Herrschenden

In früheren Zeiten war das Haltbarmachen von Nahrungsmitteln das «wirksamste Mittel zur Sicherung des Überlebens»(6), weil dadurch der Verfall der Lebensmittel aufgehalten und ihr Verzehr über einen längeren Zeitraum ermöglicht wurde. Die frühgeschichtlichen Jäger waren auch im Winter in der Lage, Wild über längere Strecken zu verfolgen und aufzuspüren. Dazu bedurfte es aber jener eisernen Ration aus Dörrfleisch und Trockenbeeren, z. B. des Pemmikan indianischer Stämme (einer Mischung aus zerstossenem Dörrfleisch und Fett), also ausreichender Nahrungsvorräte. Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft und der dadurch ausgelösten Sesshaftwerdung wurde die Beherrschung von Techniken zur Lagerung der als Überschuss produzierten Lebensmittel unabdingbar(7). Die lokalen Herrscher eigneten sich jedoch nicht selten die Lebensmittelvorräte an, die eigentlich privates Eigentum jeder Hausgemeinschaft(8) waren – und in Krisenzeiten entscheidend für das weitere Schicksal der einzelnen Gesellschaftsklassen.

Brot als Mittel der Herrschaft über das Volk

Tatsächlich war bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts der Besitz von Grund und Boden gleichbedeutend mit der Verfügung über die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen(9). Wer darüber gebot, musste freilich auch die Fähigkeit haben, Lebensmittel zu konservieren. Im Gegensatz zu den Bauern ohne Besitz an Grund und Boden, die immer noch die Möglichkeit hatten, Ressourcen der Natur zu nutzen(10), konnten die Armen in den Städten nur unter Schwierigkeiten Vorräte anlegen, so dass es nicht selten zu Hungerrevolten kam. Im antiken Rom versuchten daher die herrschenden Eliten, durch die Verteilung von Brot ans Volk sozialen Unruhen vorzubeugen. Zwar stand im Mittelalter den Städtern bereits ein breites Angebot an Fertiggerichten zur Verfügung(11), in Krisenzeiten jedoch ging dieses Angebot zurück oder verteuerte sich, was wiederum zu Aufständen führte, die die Stadtoberen in Angst und Schrecken versetzten.

Revolution in der Technik der Haltbarmachung

Seit der Neuzeit sind die Städte immer mehr dazu übergegangen, öffentliche Lebensmittelreserven anzulegen, insbesondere beim Grundnahrungsmittel Getreide(12). Alle übrigen Nahrungsmittel wurden in großer Menge von spezialisierten Handarbeitern oder in den Haushalten nach jahrhundertealten und kaum fortentwickelten Techniken haltbar gemacht: durch Dörren, Räuchern, Gären, Pökeln und Süßen. Mit Hilfe der neuen Erfahrungswissenschaften, etwa der Beobachtung der chemischen Prozesse, konnten diese Techniken nun verbessert werden. So gelang es schließlich, die Wirkung des Wassers und speziell der Mikroben bei der Fäulnis von Lebensmitteln nachzuweisen. Den großen technischen Durchbruch indes sollten die Sterilisierung und die künstliche Herstellung von Kälte bringen. Dadurch wurden ab dem 19. Jahrhundert zunehmend leistungsfähigere Haltbarmachungsverfahren beherrschbar.

Lebensmittelkonserven, die neue Triebkraft des Krieges

Napoleon war einer der frühen Förderer dieser technischen Entwicklungen. Angesichts der unzureichenden Lebensmittelversorgung seiner Soldaten, die oftmals seine Bewegungskriege beeinträchtigte(13). schwebten ihm für seine Truppen Lebensmittelrationen mit langer Haltbarkeit vor, die überallhin mitgenommen werden konnten. Er schrieb zu diesem Zweck einen Wettbewerb aus, den Appert mit der Zusicherung gewann, Lebensmittel so zu bearbeiten, «dass nicht befürchtet werden muss, dieselben infolge langen Transports oder zeitlichen Abstands von ihrer Herstellung oder Ernte am Ende verdorben in Händen zu halten»(14).

Damit waren die Grundlagen für unsere heutige Versorgung mit Nahrung gelegt: Lebensmittel jederzeit und überall, mit einem minimalen Zeitaufwand an Zubereitung. Der Fortschritt hatte begonnen, auch wenn sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Herstellung von Nahrungsmitteln für die große Mehrheit der Bevölkerung noch nicht wirklich verändert hatte. Konserven standen vor allem den Betuchteren zur Verfügung, häufig zwei bis drei Mal wöchentlich(15). Zwar kann man die Armee die Geburtshelferin der Konserve nennen(16). die Lebensmittelration in der metallenen Konservendose wurde allerdings von den Truppen erst mit dem Ersten Weltkrieg systematisch verwendet(17). währenddessen die Zivilbevölkerung von Hungersnöten heimgesucht wurde(18). Die im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz drohende Nahrungsmittelknappheit konnte mit Haushaltszuteilungen, den so genannten provisions de ménage, bewältigt werden(19).

Frische Produkte – Nahrung für die neuen Eliten? 

Zur Zeit des Wirtschaftswunders, jener drei Jahrzehnte zwischen 1945 und 1975, die anderswo «glorreich» genannt wurden, schien mit der Schaffung der industrialisierten Überflussgesellschaft(20) die Ernährungsfrage gelöst zu sein. Apperts Wunschvorstellung, dank seiner neuen Methode der Haltbarmachung die benachteiligten Bevölkerungsschichten ernähren zu können, war Wirklichkeit geworden. Vom Handel und seinem Vertriebssystem werden heutzutage allerdings Lebensmittel in Konserven sowie Fertiggerichte angeboten, deren Preis in der Regel unter dem der frischen Waren liegt. Wissenschaftler gehen daher so weit(21), gewisse Armenviertel in den US-amerikanischen Großstädten als «Ernährungswüsten» zu bezeichnen, in denen die Händler keine frischen Lebensmittel mehr anbieten, weil sie für ihre Kunden zu teuer sind und daher in den Regalen liegen bleiben.

Die modernen Technologien der Konservierung sind indessen derart leistungsfähig, dass eine Verarbeitung der Produkte zwecks Haltbarmachung nicht länger erforderlich ist. Aber auch wenn frische Lebensmittel mittlerweile überall und jederzeit zur Verfügung stehen, so hat dies doch seinen Preis. Und eines darf man nicht vergessen: Waren Konserven in früheren Zeiten den Eliten vorbehalten, so stellt sich heute die Frage, ob nicht frische Lebensmittel zum Privileg derer geworden sind, die sie sich leisten können?

Denis Rohrer

 

  1. Massimo Montanari, «Vivre de faim», in: Dorothée Rippmann, Brigitta Neumeister-Taroni, Les mangeurs de l’an 1000. Archéologie et alimentation, Vevey, Alimentarium, 2000, S. 19.
  2. Jean-Pierre Poulain (Hrsg.), Dictionnaire des cultures alimentaires, Paris, PUF, 2012, S. 95.
  3. (Nicolas) Appert, L’art de conserver, pendant plusieurs années, toutes les substances animales et végétales, Paris, Patris et Cie, 1810.
  4. Denis A. Rohrer, Tanja Aenis, «De l’usine à l’assiette», in: Annatina Seifert (Hrsg.), De la cuisine à l’usine. Les débuts de l’Industrie alimentaire en Suisse, Vevey, Alimentarium, 2008, S. 164. 
  5. Martin Bruegel, «Du temps annuel au temps quotidien: la conserve appertisée à la conquête du marché: 1810-1920», in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, Bd. 44 (1997), S. 41. 
  6. Massimo Montanari, «Vivre de faimy, in: Dorothée Rippmann, Brigitta Neumeister-Taroni, Les mangeurs de l’an 1000. Archéologie et alimentation, Vevey, Alimentarium, 2000, S. 19. 
  7. Catherine Louboutin, Au Néolithique. Les premiers paysans du monde, Paris, Gallimard, 2008, S. 29. 
  8. Denis Rohrer, «Provision de ménage», in: Dictionnaire historique de la Suisse (DHS), Hauterive, Gilles Attinger, Bd. 10 (Poma – Saitzew), 2011. 
  9. Annatina Seifert (Hrsg.), De la cuisine à l’usine. Les débuts de l’Industrie alimentaire en Suisse, Vevey, Alimentarium, 2008, S. 20.
  10. Massimo Montanari, «Vivre de faim», in: Dorothée Rippmann, Brigitta Neumeister-Taroni, Les mangeurs de l’an 1000. Archéologie et alimentation, Vevey, Alimentarium, 2000, S. 20. 
  11. Martin Bruegel, «Le repas à 1’usine: industrialisation, nutrition et alimentation populaireæ, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, Bd.51, Heft 3, 2004, S. 183. 
  12. Martin R. Schärer et al., cuisiner, manger, acheter, digérer, Vevey, Musée de l’alimentation, 2002, S. 126. 
  13. Alain Pigeard, L’armée de Napoléon. 1800-1815. Organisation et vie quotidienne, Paris, Tallandier, 2000, S. 240f.
  14. (Nicolas) Appert, L’art de conserver, pendant plusieurs années, toutes les substances animales et végétales, Paris, Patris et Cie, 1810, S. XXVIII. 
  15. Martin Bruegel, «Du temps annuel au temps quotidien: la conserve appertisée à la conquête du marché: 1810-1920», in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, Bd. 44, 1997, S. 43. 
  16. Food for the Community. Special Diets for Special Groups, C. Anne Wilson, Edinburgh, University Press, 1993. 
  17. Martin Bruegel, «Un sacrifice de plus à demander au soldat: l’armée et l’introduction de la boîte de conserve dans l’alimentation française, 1872-1920» , in: Revue historique, Bd. 596, 1995, S.280-281. / Hans Jürgen Teuteberg, Günter Wiegelmann, «Nahrungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts», in: Günter Wiegelmann (Hrsg.), Grundlagen der europäischen Ethnologie, Münster, Bd. 2, 1991, S. 82. 
  18. Denis Rohrer, «Provision de ménage», in: Dictionnaire historique de la Suisse (DHS), Hauterive, Gilles Attinger, Bd. 10 (Poma – Saitzew), 2011.
  19. Denis Rohrer, «Provision de ménage», in: Dictionnaire historique de la Suisse (DHS), Hauterive, Gilles Attinger, Bd. 10 (Poma – Saitzew), 2011.
  20. Martin R. Schärer, «Conservation des aliments», in: Dictionnaire historique de la Suisse (DHS), Hauterive, Gilles Attinger, Bd. 3 (Canada – Derville), 2004. 
  21. Kenneth F. Kiple, Kriemhild Conee Omelas, The Cambridge World History of Food, Cambridge, University Press, 2000, Bd. 1, S. 451.