Boston blüht auf

Die stille Revolution der Gemeinschaftsgärten

Der Garten kehrt in die Städte zurück: Ein Paradebeispiel für diese Entwicklung ist Boston. Dort sind aus ehemaligen Brachgebieten grosse Areale für gemeinsame Nutzung entstanden.
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Einer der größten Gemeinschaftsgärten mit über 100 Familien in einem einkommensschwachen Viertel Bostons. Diese Mutter gibt ihren Kindern etwas zu essen – und erteilt zugleich eine Lektion in Gemüseanbau.
© Boston Urban Gardeners

Die Bewegung, aus der die meisten der heute 175 Gemeinschaftsgärten in Boston hervorgingen, begann in den turbulenten 1970er-Jahren. Von den grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen blieb auch Boston nicht verschont. So führte die Bostoner Schulbuskrise zu einer jahrelangen Kontroverse und rassistisch motivierten Spannungen in gewissen Vierteln. Ausgangspunkt war die Praxis, Schulkinder zwecks Rassenintegration in entfernten Wohnvierteln einzuschulen und sie mit Bussen dorthin zu befördern. Gleichzeitig führte der drastische Anstieg des Ölpreises zur Verteuerung von Lebensmitteln. Vor diesem Hintergrund fanden sich in der Bostoner Gemeinschaftsgartenbewegung Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen, um Nahrungsmittel für den eigenen Verzehr anzubauen. 

Bostoner wie der chinesische Einwanderer Ralph Yee ergriffen die Initiative und bauten auf brach liegenden Flächen Gemüse an. Das geschah häufig im Umfeld von Brandruinen oder auf Flächen, die für eine Autobahn oder für Wohnraum vorgesehen waren, aber dann doch nicht bebaut wurden.

Wir bauen Gemüse an, das im Laden ziemlich teuer ist. Melonen können wir einlegen oder einwecken oder Suppe daraus machen. Grünes Gemüse ist gut für eine Gemüsepfanne. Wir haben nur wenig Platz und müssen Geld sparen. Mein Sohn hat gestern eine 13 Kilpogramm schwere Melone geerntet. Im Laden hätte die mindestens 29 Dollar gekostet!
– Ralph Fan
Yee, Berkeley Street Community Garden 1989

Die unautorisierte Nutzung der verwaisten Bodenflächen für landwirtschaftliche Zwecke war nicht geplant. Diese «Guerilla-Gärten», wie man sie später nannte, entstanden aus dem Bedürfnis von Armen und sozial Benachteiligten, Nahrungsmittel für den Eigenbedarf anzubauen. Sie arbeiteten mit ihren Nachbarn zusammen, von denen viele jung und idealistisch waren. Daraus entstand eine gemeinschaftsbildende Basisbewegung, die sich um das Kernanliegen Gemeinschaftsgärten kümmerte.

Dass das Land für die Gartennutzung gewonnen werden konnte, war gemeinnützigen Organisationen zu verdanken, die sich engagierten und die Interessen der Gemeinschaftsgärtner vertraten. Die Nachbarschaftsorganisation Boston Urban Gardeners (BUG) kaufte am Anfang vor allem in Minderheitenvierteln kleine Parzellen, wo die Immobilienpreise nicht sehr hoch waren. Die Schaffung von städtischen Land Trusts war die beste Strategie, um Gärten dauerhaft zu erhalten. So gehören zum Beispiel dem 1991 gegründeten South End Lower Roxbury Open Space Land Trust, heute 16 Gärten mit mehr als 600 Familien.

Der größte Garten dieses Land Trusts, der Berkeley Street Community Garden, erstreckt sich über einen ganzen Straßenblock. In einem Zeitraum von zehn Jahren entwickelte sich das Berkeley-Street-Projekt von einem ärmlichen Garten, den viele eher als Schandfleck betrachteten, zu einer breit akzeptierten und gern genutzten gemeinschaftlichen Anlage. Büroangestellte verbringen hier ihre Mittagspause. Andere, wie Mr. Yee und viele seiner Nachbarn, pflanzen Nahrungsmittel an. Mr. Yee, ein älterer Herr, war einer der Führer in der chinesischen Einwanderergemeinde und auch im Berkeley Street Community Garden:

Ich bin in China auf dem Land aufgewachsen. Dort wusste jeder, wie man Nahrungsmittel anbaut. Man pflanzte sie gleich neben die Häuser. So hatten wir immer frisches Gemüse, denn es war warm, und man konnte das ganze Jahr über ernten. Aus diesen Erfahrungen im Dorf habe ich gelernt, auch hier zu gärtnern. Ich habe von Anfang an beim Berkeley Street Garden mitgemacht, wir alle haben zusammen gearbeitet …
Ich bin Kalligraf und möchte für die Gärtner gerne Übersetzungen machen, damit wir alle mit dem Viertel zusammenarbeiten können. Ich finde, dass jeder Verantwortung übernehmen und sich beteiligen muss – damit die Welt ein bisschen besser wird.

Die meisten Gärtner bauten asiatisches Gemüse an, weil es im Laden sehr teuer ist und aus Florida, Kalifornien oder aus dem Ausland eingeflogen wird. Über 90 Prozent der ersten Gärtner waren vermutlich Chinesen, viele von ihnen Senioren. Nur sehr wenige sprachen Englisch, viele konnten nicht lesen.

Die Gärten werden von einem Freiwilligenteam geleitet. Oft sind es Funktionäre, die eine Verbindung zur landbesitzenden Organisation haben. Bei allen Gärten kann man sich nach einem bestimmten System für die Nutzung einer Parzelle anmelden. Die Parzellennutzer zahlen einen jährlichen Mitgliedsbeitrag und müssen sich an Wartungsarbeiten und vierteljährlichen Reinigungseinsätzen beteiligen. Der Jahresbeitrag, mit dem die Kosten gedeckt werden, beträgt in den meisten Fällen nicht mehr als 30 US-Dollar pro Jahr.

Jeder Garten hat seinen eigenen Stil, seine besondere Stimmung und Gestalt. Es gibt grosse Gärten mit über 150 Mitgliedern, aber auch kleine mit nur zehn bis zwölf Parzellen. Einige sind ordentlich und adrett gestaltet, andere wirken eher wild und improvisiert.

Das Boston Natural Areas Network (BNAN) ist inzwischen der bedeutendste Eigentümer und Verwalter von Gemeinschaftsgärten in Boston. Es ist für mehr als 10.000 Gärtner und ihre Familien mit vorwiegend geringem oder mittlerem Einkommen zuständig, die mehrere tausend verschiedene Gartenparzellen bewirtschaften. Jede Parzelle erbringt einen geschätzten Ertrag von fast 300 US-Dollar im Jahr, obwohl die Gartensaison in der Region nur von April bis Oktober dauert. Das ergibt einen Gesamtwert von 1,2 Millionen US-Dollar. Das BNAN veranstaltet ein jährliches Treffen der Gärtner («Gardeners Gathering»), koordiniert die kostenlose Bereitstellung von Saatgut und Kompost, organisiert vielfältige Bildungsprogramme und setzt sich für mehr öffentliche Freiflächen für den Anbau von Nahrungsmitteln und für die Erholung ein.

Die Gemeinschaftsgärten sind über die Jahre gewachsen und zu kulturellen Fixpunkten in den Wohnvierteln geworden. Hier werden Workshops zu Gartenthemen angeboten, etwa zum Baum- und Gehölzschnitt, aber auch gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse wie Konzerte und Benefizveranstaltungen durchgeführt. Einige Gärten verkaufen ihre Produkte auf Wochenmärkten, um die Kosten zu decken, andere spenden Nahrungsmittel an Lebensmittelausgaben vor Ort.

In Boston und in den gesamten USA ist das Interesse an der urbanen Landwirtschaft gewachsen. Im Jahr 2009 nahm Michelle Obama eine Schaufel in die Hand und fing an, den Rasen beim Weißen Haus umzugraben, um mitten in Washington, D.C. einen Gemüsegarten für Kinder anzulegen. Nahrungsmittelsicherheit fängt, wie die First Lady sehr gut weiss, zu Hause an. Mit ihrer Aktion nahm sie Bezug auf die Arbeit vieler Jahre, in denen Gemeinschaftsgärten in US-amerikanischen Städten ganz normal geworden sind – als Teil des langen, viel zu langsamen Kampfes für soziale Gerechtigkeit im Land.

Juliet Stone

Anmerkung

Mr Yee from BUG Newsletter, “Portrait of a Gardener”, Volume XIV, Issue 4, Winter 1989

Fenway Victory Gardens

Boston Natural Areas Network

South End and Lower Roxbury Garden Council

Berkeley Community Gardens 

en.wikipedia.org/wiki/Boston_busing_crisis

www.selrgardens.org

www.nytimes.com

Photos courtesy of the BUG Archive; copyright Juliet Stone

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